Auf dem Heimweg beklagte sich mein Kollege: «Weshalb gibt es Leute, die meine Jacke stehlen?» Wir stiegen in den Bus ein. An der nächsten Haltestelle stieg eine ältere Dame zu. Da alle Plätze besetzt waren, überliess ich ihr meinen Sitzplatz. Mein Kollege konnte dieses Verhalten nicht nachvollziehen. Er flüsterte: «Weshalb gibst du ihr deinen Platz frei? Jetzt musst Du stehen. Dir kann diese Alte doch egal sein.» Ich dockte an die vorherige Situation an: «Weil die meisten so denken wie du, vermisst du deine Jacke!»
Wer hat meinem Kollegen gesagt, dass Stehlen etwas Schlechtes sei? Er könnte es genauso gut als etwas Erstrebenswertes darstellen. Jeder packt die Gelegenheit beim Schopf, um sich mit dem einzudecken, was er gerade braucht.
Früher waren wichtige Elemente der christlichen Moral unumstritten. Das Gewissen des Einzelnen war entsprechend geprägt und diese Prägung wurde generationsübergreifend weitergegeben. Doch nun verabschieden wir uns immer mehr von unseren christlichen Wurzeln. So war zum Beispiel vor 100 Jahren eine aufgedeckte Lüge eine Schande, heute leben wir nach dem Motto: «Solange dich niemand ertappt und es dir etwas nützt, gilt es, zuzuschlagen.»
Unser Gewissen wird in gewissen Dingen abgestumpft, in anderen verlagert.
Auf was wir hinsteuern, können wir aus anderen Kulturen beobachten, welche den christlichen Hintergrund nie gehabt haben. Vishal Mangalwadi, ein indischer Autor und Philosoph beschreibt das in seinem lesenswerten Buch «Die Mitte»: In Europa gibt es bei vielen Bauernhöfen Selbstbedienung. Man muss das Geld für die Milch, das Obst oder das Gemüse selbstständig in die Kasse legen. In Indien würde der Bauer nicht nur das Geld und die Milch, sondern auch gleich noch die Kuh nie mehr wiedersehen. Wir stellen fest: eine solches verdrehtes moralisches Empfinden geht nicht auf.
Doch auf was wollen wir hinaus?
In unserer Gesellschaft muss man sich dafür schämen, ein Christ zu sein. Doch genau die Leute, die über die Christen herziehen sind die, die tagtäglich von den christlichen Strukturen profitieren. So paradox das klingt: unsere Gesellschaft hat sich von Gottes Geboten «befreit» und ist deswegen in Gefangenschaft geraten. In Gefangenschaft der Sünde.
Gott möchte uns nicht bestrafen, indem er uns vorschreibt, nicht zu stehlen. Denn mal ganz ehrlich: wirst du gerne bestohlen?